Baubiologie: Interview mit Andreas Graf

Ökologisch, sozial, wirtschaftlich: Das sind die Grundlagen der Baubiologie. Architekt und Baubiologe Andreas Graf sagt, warum die Disziplin für das Bauwesen wichtig ist.

Andreas Graf, was genau ist Baubiologie?
Es ist eine umfassende Disziplin, die – wie die Nachhaltigkeit – aus den drei Bereichen «Ökologie», «Gesundheit/Soziales» und «Ökonomie» besteht. Bei der Baubiologie stehen der Mensch und sein Wohlbefinden im Zentrum. Es geht um eine Vorwärtsentwicklung im Bauwesen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Lebewesen auf unserem Planeten. Dazu gehören beispielsweise unsere Arbeitskollegen, Lieferantinnen aus fernen Ländern und alle Pflanzen und Tiere auf der Erde und im Wasser.

Können Sie zu den drei Kernbereichen Beispiele aus der Baubranche nennen?
Zur Ökologie gehören unter anderem kurze Transportwege und die Verwendung von erneuerbaren Materialien wie beispielsweise einer Holzfaserdämmung statt des Kunststoffs Polistyrol. Im Bereich «Gesundheit/Soziales» stehen unser Verhältnis zu Tieflohnländern und die Herstellungsbedingungen der verwendeten Produkte im Zentrum. Auch ein wertschätzender Umgang auf der Baustelle und faire Löhne zählen hier dazu. Und bei der Ökonomie geht es um langfristige Investitionen und Bauweisen, die lange Renovationszyklen ermöglichen und den Unterhalt von Gebäuden reduzieren.

Was sind die Aufgaben und Tätigkeiten von Baubiologinnen und Baubiologen?
Sie beraten Bauherren, Unternehmerinnen und Planer in allen Phasen eines Bauprojekts. Das beginnt mit der Wahl eines geeigneten Standorts und reicht bis zur Bestimmung der Materialien und Anstriche, die in den Innenräumen verwendet werden sollen. Die meisten Baubiologen arbeiten weiterhin in ihrem angestammten Beruf.

Mit welchen Herausforderungen werden Sie als Baubiologe konfrontiert?
Letztlich bestimmt immer der Geldgeber oder die Geldgeberin. Deshalb müssen wir die Qualitäten von baubiologischen Häusern gut kommunizieren und hervorheben. Viele Leute haben nämlich Vorurteile gegenüber gewissen Bauweisen, etwa gegenüber Minergie-Bauten. Sie fürchten beispielsweise, dass man die Fenster nicht öffnen darf. Meiner Erfahrung nach bringt es viel, wenn wir den Leuten zeigen, wie es sich in einem baubiologischen Haus anfühlt, und sie die unterschiedlichen Materialien bei einer Besichtigung vor Ort sehen und berühren können.

Wodurch zeichnen sich Naturbaustoffe aus?
Sie sind dampfdiffusionsoffen. Das heisst, dass die Feuchtigkeit aus dem Gebäude entweichen kann. Für die Herstellung von Naturbaustoffen wird zudem meist weniger Energie verbraucht. Da sie weniger stark verarbeitet sind, ist es einfacher und umweltschonender möglich, sie nach der Nutzungsphase wieder in den Kreislauf der Natur zu integrieren. Auch ist die Abhängigkeit vom globalen Markt geringer, wenn man auf Massivholz aus der Schweiz setzt, statt auf Spanplatten aus dem Ausland.

Wo steht die Bau- und Immobilienbranche Ihrer Meinung nach, wenn wir von nachhaltigem Bauen sprechen?
Wir stehen dort, wo wir vor 20 Jahren hätten stehen sollen. Seit rund fünf Jahren ist ein Wandel im Gang, losgetreten durch die neuen gesetzlichen Vorschriften rund um Ökologie. Die Erkenntnis, dass ein Wandel notwendig ist, ist aber alles andere als neu: Sie ist seit vier Jahrzehnten bekannt. Leider wurde die Wissenschaft lange nicht ernst genommen. Persönlich beobachte ich, dass aus der Nachhaltigkeitsnische in den letzten Jahren ein neuer Markt hervorging, von dem viele Unternehmen nun profitieren wollen. Der Motor für den Wandel ist für viele Investoren nicht die Erkenntnis, dass wir etwas gegen den Klimawandel tun sollten, sondern es sind der ökonomische Vorteil und neue gesetzliche Vorgaben.

Und wie sieht Ihre persönliche Vision für die Branche aus?
Für mich steht die soziale Gerechtigkeit im Fokus. Der Mehrwert eines Gebäudes, den es aufgrund der Preisentwicklung des Bodens erfährt, sollte nicht von Einzelnen abgeschöpft, sondern den Benutzerinnen und Benutzern respektive der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden.

 

Andreas Graf hat an der ETH Zürich und Lausanne Architektur studiert und in verschiedenen Architekturbüros gearbeitet. Er ist Baubiologe mit eidgenössischem Fachausweis und leitete mehrere Jahre die Bildungsstelle Baubiologie.

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